Der Weg war kaum mehr erkennbar und die Zweige über uns hingen so dicht, dass wir nicht einmal den Himmel sehen konnten. Natürlich hatte ich gewusst, dass der Wald auf dem Scharuk etwas ganz anderes war als die Wälder zwischen den Dörfern, durch die angelegte Wege führten, die ständig von Jägern und Holzfällern benutzt wurden.

 „Bist du dir sicher, dass wir noch richtig sind?“, fragte Schelir. „Ich kann nicht mehr sehen, ob wir überhaupt noch in Richtung Sonnenuntergang unterwegs sind.“

 „Das sind wir“, behauptete ich, obwohl ich keineswegs überzeugt war. Wenn es die berühmte Königsstraße nach Palia Vasilia tatsächlich gab, war sie inzwischen vom Urwald so überwuchert, dass kein Mensch sie mehr finden konnte.

 „Schaut! Dort oben hat jemand anderes eine Straße gebaut!“, machte uns Sarman auf eine Art Tunnel in etwa zehn bis zwölf Ellen Höhe aufmerksam. Tatsächlich waren die Äste mit Bast auf die Seite gebunden, sodass der Weg dort oben leicht für Menschen zu passieren war. „Ich wusste gar nicht, dass die Waldmenschen Straßen bauen können“, fügte Sarman hinzu.

 „Es gibt etwas, das du nicht weißt? O ihr Götter!“, ätzte Schelir.

 Wirklich wusste Sarman Dinge, die nicht einmal allen Priestern bekannt waren. Er war tagelang durch fremde Dörfer geritten und hatte Geschichten über Palia Vasilia gesammelt – durchaus nicht nur von den Priestern, sondern von den alten Frauen und Männern, die er auf den Plätzen traf. Sogar Menschen, die einige Worte in der Sprache der Waldmenschen kannten, hatte er getroffen.

 „Hoffentlich greifen uns die Waldmenschen nicht an, wenn wir hier unter ihrer Straße durchgehen“, fürchtete ich und griff nach meinem Bogen.

 „Keine Angst! Waldmenschen fürchten sich normalerweise vor uns normalen Menschen“, beruhigte mich Sarman. „Ich weiß nur nicht, was passiert, wenn wir auf ihre Nester stoßen.

 Schelir, unser bester Kletterer, schwang sich über mehrere Äste auf die Waldmenschenstraße.

 „Von hier oben sehe ich die Sonne. Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg, wenn wir der Straße folgen. Aber gehen ist dort unmöglich – die Zweige liegen zu weit auseinander.“

 

 Er kam wieder herunter und wir kämpften uns mit Messern durch das Gebüsch. Hin und wieder fanden wir tatsächlich Reste gesägter Baumstämme, was bedeutete, dass irgendwann normale Menschen hierher gekommen sein mussten, wenn Sarmans Informationen stimmten, dass Waldmenschen kein Metall kannten und daher nicht sägen konnten. Dennoch waren wir natürlich längst über die äußersten Vorstöße von Jägern und Holzhackern in den Urwald hinausgekommen.

 Wir folgten weiter der Waldmenschenstraße, bis es dunkler wurde. Der Wald hatte sich auf dem Weg verändert: Waren wir zunächst durch einen Mischwald, dessen Boden von etwa mannshohen Farnen bewachsen war, gegangen, so gab es hier riesige Bäume, aus deren oft mehrere Ellen dicken Stämmen eine Art Misteln herauswucherte. Das Laub war viel zu dicht, als dass es starken Bodenbewuchs geben könnte. Der Boden war mit Moos bedeckt, das hier allerdings hoch genug wuchs, um die zahlreichen Wurzeln zu verdecken, sodass es wegen Rutsch- und Stolpergefahr nicht ungefährlich war, in  der Dämmerung weiterzugehen.

 „Hier ist eine Höhle“, stellte Schelir fest. Er kletterte über einige Wurzeln und stand schließlich vor einer Höhlung unter einem der Baumriesen.

 

 „Jesgútasímene! Gardusch tamáimene!“, rief eine Stimme von hoch oben aus den Wipfeln– zu tief für eine Frauen-, jedoch zu hoch für eine Männerstimme.

 Wir spannten unsere Bögen, während Sarman „omsessis“ hinauf rief.

 „Ori daridsan-jachud? – Feldmensch?“ rief die fremde Stimme herunter und wir hörten jemand hart auf einen Ast auftreten.

 „Höhlen in Wolf. Nicht gehen in!“, rief dieselbe Person und kurz darauf sprang sie auf einen tief hängenden Ast. Wie die Waldmenschenleichen, die ich gesehen hatte, waren ihre Arme länger als bei gewöhnlichen Menschen und reichten, wenn sie stand, bis zu den Knien. Sie hatte lange, dunkelbraune Haare und trug ein Gewand aus mit Bast aneinander gebundenen Blättern eines mir unbekannten Baumes. Schuhe trug sie nicht. Ihr Gewand bedeckte ihren Oberkörper nur teilweise, sodass es keinen Zweifel gab, dass wir eine Frau oder ein Mädchen vor uns hatten. Die Waldfrau schien noch sehr jung zu sein, sofern man das bei Waldmenschen genau sagen konnte.

 „Schakuja Feld – Schakuja hinter Feldmensch viel Zeit“ sagte sie. „Feldmensch nicht viel Mal hier Ort“.

 „Schakuja ist dein Name?“, fragte ich. Sie verstand nicht gleich, deutete dann aber auf sich: „Schakuja!“

 „Karisch“, sagte ich und nannte auch die Namen meiner Freunde.

 „Schakuja war viel Zeit nicht sieht Feldmensch – Feldmenschen für hier Ort nicht gut, Wolf.“

 „Du meinst, es gibt hier Wölfe? Garduschisch ta-tamen?“, fragte Sarman.

 „Schakuja war viel Wolf hier sieht. Feldmensch zu Schakuja kommt, Schakuja Feldmenschen Freund.“ Sie beugte sich herunter und hob Schelir zu sich auf den Ast. Als sie nebeneinander standen, erkannten wir, dass Schelir ihr gerade bis zu den Schultern reichte.

 Sarman legte die Stirn in Falten.

 „Was meinst du? Sollen wir ihr trauen?“, fragte ich.

 „Normalerweise sind Waldmenschen ungefährlich, soviel ich weiß“, antwortete er. „Das einzige, was jemals gehört worden ist über Waldmenschen, ist, dass sie Früchte gestohlen haben, als die Gärten noch direkt am Rand des Urwaldes lagen. Aber normalerweise sind Waldmenschen höchstens drei Ellen groß – und diese Frau misst mindestens vier, wenn nicht mehr.“

 „Feldmensch Schakuja nicht fürchtet, nicht gut“, rief Schakuja. „Schakuja Feldmenschen hilft.“

 „Wo ist deine Sippe? Ori tamen matuskimper?“, fragte Sarman.

 „Schakuja Sippen nicht hat.“

 Während wir noch unentschlossen herumstanden, sprang ein gewaltiger Wolf aus der Höhle heraus. Nur Schelirs Geistesgegenwart war es zu verdanken, dass wir es überlebten: Er spannte blitzschnell den Bogen und schoss auf den Wolf. Ich tötete das Tier mit dem Messer.

 „Schakuja war Wolf sagt“, sagte das Mädchen. „Feldmensch Spieß hat – Schakuja Spieß nicht hat.“ Tatsächlich war sie unbewaffnet.

 „Schakuja Feldmensch helft, Feldmensch Schakuja mitkommt.“

 Ich sah Sarman an, der nickte. „Wenn es zu gefährlich wird oder sie angreift, können wir immer noch zurückgehen oder sie erschießen.“

 Schakuja half uns über einzelne Äste, doch im Allgemeinen konnte ein guter Kletterer, und das waren wir alle, ihr folgen. In etwa acht oder neun Ellen Höhe schob sie einige Zweige beiseite, um uns von der Waldmenschenstraße auf einen offenbar versteckten Seitenweg zu führen. Der Weg führte immer weiter nach oben Die Abstände zwischen den Ästen, an denen wir uns entlang hangelten, wurden größer und wir fürchteten schon, umkehren zu müssen, als Schakuja sich aufrichtete und erneut Zweige beiseite schob.

 „Schakujas Haus“, erklärte sie. Vor uns lag eine Hütte aus Zweigen, die gut versteckt im Dickicht der Baumkrone lag. Zwischen den Zweigen war Erde, sodass die Behausung wohl auch Regenschutz bot. Nur Licht hätte es wohl auch unter Tags kaum gegeben, umso weniger nun.

 

 Der Boden des Baumhauses war überraschend weich. Wir setzten uns so, dass wir etwas vom Licht, das durch den Eingang fiel, hatten. Schakuja fand sich im Dunkeln zurecht – entweder konnte sie nachts sehen oder riechen wie ein Hund.

 Sie gab uns Früchte und Nüsse einer Art, die wir gar nicht kannten. Auch etwas rohes Fleisch bot sie uns an, konnte aber nicht sagen, von welchem Tier es stammte.

 „Was Feldmensch tut hier Ort?“, fragte sie. Sarman versuchte es ihr in Waldmenschensprache zu erklären – ich konnte sogar das Wort „Palia Vasilia“ verstehen.

 „Palia Vasilia jestamen, jeskupun. Niemal, Nie Ort“, erklärte sie entschieden. Wir versuchten sie, vom Gegenteil zu überzeugen, doch auch Sarman sprach die Waldmenschensprache nur wenig und Schakuja verstand nicht alles in unserer Sprache.

 Immerhin erfuhren wir von ihr, dass die Waldmenschenstraße zum „Bardum Kisch“, zum weißen Baum, führte. Wir wussten jedoch nicht, ob sie den weißen Baum meinte, der am Heiligtum auf den Gipfel des Scharuk wuchs und die anderen Bäume so weit überragte, dass man ihn noch vom Turm der Fürstenburg aus erkennen konnte.

 

 „Warum bist du allein? Die Priester, das heißt, die Zauberer sagen, Waldmenschen leben immer in Sippen“, wagte Sarman einen Vorstoß und übersetzte, als Schakuja nicht gleich antwortete.

 Sie schien zu weinen, auch wenn wir ihr Gesicht nicht mehr erkennen konnten.

 „Unglück war. Unglück war Schakujas Sippe drin. Zehn Jahr Zeit hier Zeit. Urman urjachud Schakuja send fern.“

 „Ein Urman urjachud hat dich weggeschickt?“, fragte Sarman. „Was heißt das?“

 „Urman urjachud Gotten Willen kennt. Urman urjachud war gut Schakujan. Tag war von Unglücks, Urman urjachud Schakuja send fern, fern Sippen.“

 „Euer Priester hat dich weggeschickt, weil er glaubte, du warst an einem Unglück schuld?“, fragte ich.

 „Feldmensch recht.“

 

 Um welches Unglück es sich handelte, konnte Schakuja nicht sagen. Als es draußen völlig dunkel war, gab sie uns Decken aus Fellen und schloss den Eingang. Wir vereinbarten, lieber zunächst Wachen zu halten, um zu kontrollieren, ob unsere Gastgeberin wirklich schlief.

 „Alle Priester sagen, Waldmenschen sind höchstens fünf Ellen groß und fressen kein Fleisch“, erzählte Sarman. „Dieses Mädchen ist viel größer und frisst Fleisch. Hoffentlich keine Menschen.“

 Die Sorgen waren unbegründet. Schakuja schlief tief und ließ auch uns ebenso ruhig schlafen.

 

 Während ich noch Wache hielt, hatte ich mit dem Schlaf zu kämpfen. Im Traum befand ich mich wieder im Obstgarten des Fürstenhofes. Matajariga stand neben mir und wir hielten uns an den Händen.

 „Ich werde es tun, und wenn es mir gelingt, wird dein Vater keine andere Möglichkeit haben, als mich in den Fürstenstand zu erheben. Er hat es bei allen Göttern geschworen – und wer diesen Schwur bricht, muss sterben.“

 Sie legte ihren Kopf an meine Schulter. „Schatz, ich habe Angst. Du musst durch den Urwald. Dort gibt es Trolle und sogar Drachen – und wenn wirklich Zauberer die Stadt verwünscht haben, hast du überhaupt keine Chance.“

 „Was sollen wir sonst tun?“

 Sie begann zu weinen. In den Fürstenstand erhoben zu werden war nicht ganz so aussichtslos wie in den Priesterstand, doch ich hatte es noch nicht gehört, dass überhaupt jemand gefürstet worden war. Bereits Fürst Samirix, der Vater unseres Fürsten Hatarix und somit Matajarigas Großvater, hatte die Fürsten der Umgebung unterworfen, sodass es von der Fürstenburg aus über sechs oder sieben Tagesritte in jede Richtung keinen Fürsten gab, der den Krieg mit uns wagte – außer eben im Urwald auf dem Scharuk, den niemand genau kannte, seit dem Tag, als Palia Vasilia versunken war und die Straßen und Heiligtümer, die ihre Könige angelegt hatten, verödeten.

 Die Erhebung in den Fürstenstand war aber das Mindeste, um überhaupt daran denken zu können, um Matajarigas Hand anzuhalten. Mein Vater war ein reicher Mann, gewiss, aber doch nur aus dem Bauernstand. Meine Schwester Sensina war Nebenfrau des Fürsten, doch das war eine ganz andere Sache als dass ein Mann aus dem Bauernstand eine Prinzessin hätte freien können – zumal dann, wenn es keine Prinzen gab und die Schwiegersöhne womöglich die ersten Anwärter auf die Fürstenkrone waren.

 „Es muss sein, Liebes!“

 „Es werden sich Wege finden, Schatz! Doch sterben darfst du nicht!“ Matajariga klammerte sich fester an mich.

 

 „He, was ist los?“, schreckte mich eine Stimme auf. Es war nicht Matajariga, die sich an mich klammerte und durch deren Haar ich strich, sondern Schelir. „Was hast du vor? Mit wem redest du? Wenn du nicht wach bleiben kannst, dann schlaf lieber. Ich glaub, unsere Gastgeberin ist im Moment nicht gefährlich.“

 Tatsächlich schlief ich irgendwann tief und fest und brauchte am Morgen einen Moment, um zu merken, wo ich war. Sarman war bereits aufgewacht.

 „Guten Morgen! Schakuja ist weg – wir wollen sehen, ob sie wieder kommt! Wir sollten uns kampfbereit machen, falls sie doch ihre Sippe holt.“

 Sie kam kurz darauf zurück, allein, mit einem Korb voller Früchte und einem Tannenhörnchen. Inzwischen war auch Schelir aufgewacht.

 „Was haltet ihr davon? Ich glaube, es wäre sinnvoll, wenn wir sie auf unsere Seite bekämen. Wir können uns hier im Wald kaum orientieren. Ein Waldmensch auf unserer Seite wäre Gold wert, doch normalerweise verlassen die Waldmenschen ihre Sippe nicht. Sie scheint aber keine Sippe zu haben.“

 

 Als Schakuja uns von den Früchten und dem Fleisch anbot, fragte Sarman sie, was sie über den weißen Baum wisse.

 „Utschava, Heilige Ort“, erklärte sie. „Nicht viel Menschen war dort war. Was sagt Feldmensch? – Priester – Priester sagt, Gott Bardum Kischmene wohnt“

 „Ist Bardum Kischmene – Entschuldigung, Kisch – auf der Spitze des Hügels? – Scharuksan hartimene?“

 „Ori harti? Harti – Ori Apataksan harti? Feldmensch nicht Apatak spricht.“

Sarman, der ebenso wenig verstand wie ich ritzte den Berg und die auffällige Baumspitze mit seinem Messer in ein Rindenstück.

 „Nennt ihr das Apatak? Ist das Apatak?“, fragte er.

 „Apatak – In Apataks Hochplatz Bardum Kisch“, bestätigte Schakuja.

 „Warst du jemals dort?“–  Schakuja verneinte.

 „Möchtest du dorthin?“ – „Schakuja hier Ort gut lebt. Was Schakuja in heilig Baum tut?“

 

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