Es war einmal…

Es war einmal ein Land, das durch Mauer und Stacheldraht geteilt wurde. Die Teilungsgrenze war mit Selbstschussanlagen gesichert. Militär und Polizei des einen Teilstaates hatten die Anweisung, jeden, der versuchte, in den anderen Teilstaat zu kommen, zu erschießen.

 

Es war einmal ein Land (bzw. der Teil eines Landes), in dem jemand, der die Regierung kritisierte oder der einen Witz über den Staatschef machte, dafür ins Gefängnis kommen konnte. Es konnten Schüler kein Abitur machen, weil sie nicht dem staatlichen Jugendverband angehörten. Unter Umständen konnte es auch reichen, wenn die Eltern kirchlich aktiv oder sonst als regierungskritisch bekannt waren.

 

In diesem Land war offiziell Meinungsfreiheit garantiert. Gleichzeitig gab es keine Möglichkeit, diese einzufordern. Wer aus politischen Gründen nicht zum Abitur zugelassen wurde, hatte zwar die Möglichkeit zur Beschwerde, eine rechtliche Überprüfung fand jedoch nicht statt.

 

Und es gibt heute noch Menschen, die dieses Land als Rechtsstaat bezeichnen. Es gibt andere, die behaupten, die Zustände heute seien gleich schlimm oder schlimmer als damals.

 

Was ist ein Rechtsstaat?

Seit der Römischen Republik gelten einige Rechtsgrundsätze, darunter z.B. „Nulla poena sine lege stricta et praevia“, zu Deutsch „Keine Strafe ohne eindeutiges und vorher bestehendes Gesetz.“ Jede Art von Strafe oder Ordnungsmaßnahme darf also nur verhängt werden, wenn die Tat zum Tatzeitpunkt und am Tatort ausdrücklich verboten war (stricta) und dieses Verbot vor der Tat bestand (praevia). Beispielsweise wäre ein Gesetz mit dem Wortlaut „Wer der Gesellschaft Schaden zufügt, wird mit (…) bestraft.“ nicht zulässig, da „der Gesellschaft Schaden zufügen“ nahezu beliebig auslegbar ist. Ein Beispiel für „praevia“ ist, dass jemand, der auf einem vor 2008 aufgenommenen Foto in einer bayrischen Wirtschaft rauchend zu sehen ist, nicht nachträglich dafür bestraft werden darf.

 

Eine Forderung der Aufklärung ist ferner die Trennung zwischen Legislative (Gesetzgebung), Exekutive (Verwaltung) und Judikative (Gerichten). Es darf also nicht sein, dass ein Richter von der Anweisung der Regierung abhängig ist. Eine Maßnahme der Regierung muss grundsätzlich rechtlich überprüfbar sein.

In Deutschland gibt es dazu auf Bundesebene und in jedem Bundesland ein Verfassungsgericht, dessen Aufgabe es ist, zu überprüfen, ob ein Gesetz oder eine Verordnung verfassungswidrig ist, sowie Verwaltungsgerichte, deren Aufgabe es ist, Maßnahmen von Behörden wie Straf- oder Steuerbefehle auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen.

Im Klartext: Alles, was Behörden verordnen und alles rechtlich bedeutenden Maßnahmen wie Zulassung zu Abitur oder Examen, Gewährung oder Verweigerung von Sozialleistungen oder Steuer- und Abgabenforderungen sind grundsätzlich anfechtbar. Werden sie angefochten, geschieht die Überprüfung auf der Basis klarer rechtlicher Grundlagen.

 

Das heißt nicht, dass in einem Rechtsstaat Behörden keine Fehler machen dürfen und dass es nicht handfeste Skandale geben darf. Nur: Wem zu viele Steuern abverlangt werden, wem eine zustehende Sozialleistung verweigert wird, wer nicht zum Abitur oder zum Staatsdienst zugelassen wird etc. muss die Möglichkeit haben, diese Maßnahme einzuklagen. Ob die Steuerforderung, die Verweigerung der Sozialleistung oder die Nichtzulassung zu einer Prüfung oder zum Staatdienst rechtmäßig war, wird aufgrund von klaren rechtlichen Regelungen entschieden, nicht aufgrund des Willens eines Herrschers von Gottes Gnaden oder eines Führers bzw. einer Partei oder Gruppe, die immer Recht hat.

 

„BRDDR“ oder „Wenn die DDR ein Unrechtsstaat ist, was ist dann die BRD?“

Linke wie Gregor Gysi und rechte bzw. konservative Gruppen übertreffen sich derzeit gegenseitig darin, den diesbezüglichen Unterschied zwischen DDR und BRD bzw. vereinigtem Deutschland kleinzureden.

 

Gysi beruft sich dabei auf das Recht der Sowjetunion als Siegermacht, in ihrer Besatzungszone ebenso einen Staat zu gründen wie es vorher die Westmächte in ihren Zonen getan hatten. Dieses Recht ist unbestritten, ebenso wie es unbestritten ist, dass 16 Jahre vorher Adolf Hitler rechtmäßig zum Reichskanzler ernannt wurde und wie Reichstagsbrandverordnung und Ermächtigungsgesetz formal rechtmäßig waren.

Das Unrecht begann im Nationalsozialismus spätestens mit der Einrichtung von Konzentrationslagern, in denen Menschen beliebig lang festgehalten werden konnten, ohne dagegen protestieren zu können. Es bestand weiter darin, dass die letzte Grundlage juristischer Entscheidungen der Führerwille war. Über Holocaust und „Endlösung“ braucht dann überhaupt nicht mehr gesprochen zu werden.

Das Unrecht in der DDR bestand darin, dass jemand, dem als politisch unzuverlässiger Person Rechte verweigert wurden, überhaupt keine Möglichkeit hatte, dies rechtlich überprüfen zu lassen. Wer mit dem Argument, keine „reife sozialistische Persönlichkeit zu sein“ nicht Abitur machen oder ein bestimmtes Fach nicht studieren durfte, hatte keinerlei juristische Möglichkeit, diese Entscheidung überprüfen zu lassen. Es gab zwar die Möglichkeit, Beschwerden (Eingaben) zu verfassen, doch ob und wie diese Erfolg hatten, konnte die Staatsführung nach Gutdünken entscheiden. Wer öffentlich Kritik an der Regierung äußerte, riskierte die Entfernung aus dem Staatsdienst.

 

Von Linken wie Rechten wird gelegentlich behauptet, dass Deutschland heute sich nicht viel davon unterscheide. Linke verweisen hier gern auf Berufsverbote, die es auch hier gab und gibt. Hier gibt es natürlich Grenzfälle, doch ein Berufsverbot wegen fehlender Verfassungstreue muss grundsätzlich nachprüfbar sein. Jeder Beamtenanwärter erhält eine Liste von Parteien oder Gruppen, bei denen er Auskunft geben muss, ob er ihnen angehört oder angehört hat. Wenn jemand etwa wegen DKP-Mitgliedschaft nicht zum Staatsdienst zugelassen wurde, muss der Staat beweisen, dass diese Person wirklich DKP-Mitglied war (und nicht nur mit DKP-Mitgliedern befreundet oder an einer Demonstration, an der auch Kommunisten teilnahmen, beteiligt).

Von konservativen Kritikern wird angeführt, dass EU-Kritiker, Klimaskeptiker oder Islamkritiker staatlicher Willkür ausgesetzt seien. Mit einem Unrechtsstaat hätte das allerdings nur zu tun, wenn jemandem ein bestehendes Recht verweigert würde. Es gibt etwa ein Recht, dass jemand, der die formalen Voraussetzungen erfüllt, in den Staatsdienst übernommen wird oder dass ein Beamter, der sich nichts strafrechtlich Relevantes zuschulden hat kommen lassen, bis zu seiner Pensionierung im Amt bleibt und danach die zustehende  Pension erhält.

Es gibt dagegen kein Recht darauf, von einer bestimmten Zeitung zitiert zu werden, für ein politisches Amt (wieder-)vorgeschlagen zu werden oder in der Öffentlichkeit Zustimmung zu erfahren.

Kritik an der Regierung ist in allen Medien oft zu finden. Es gibt bisher keinen Hinweis darauf, dass jemand, der öffentlich Ausdrücke wie „das Merkel“ oder „der sprechende Hosenanzug“ verwendete, dafür öffentlich belangt worden wäre.

Nun mag man einwenden, dies beweise, dass die wahren Machthaber andere seien, z.B. die Juden / Freimaurer / Rotarier / Bilderberger / Ostküste usw. usf. – nur gilt hier die Belegpflicht dessen, der dergleichen behauptet. Ein Autounfall kann durch eine Unachtsamkeit eines oder beider Beteiligten passiert sein oder durch das Eingreifen eines Aliens. Das Gericht muss vom (wesentlich) Wahrscheinlicheren ausgehen.

 

Also alles in Ordnung?

Kennzeichen einer Demokratie ist, seine Meinung frei äußern zu dürfen, auch wenn die Regierung oder auch die Mehrheit der Bevölkerung anders denkt. Kritik beispielsweise an Maßnahmen zur Eurorettung, an Wirtschaftsabkommen mit den USA oder dem Verhältnis zu islamischen Staaten muss möglich sein – nur: Wer kritisiert, muss damit rechnen, dass derjenige, den er kritisiert, seinen Standpunkt verteidigt. Wer es ablehnt, eine politische Entscheidung als alternativlos zu bezeichnen, muss Alternativen nennen können.

 

Diese Diskussion muss offen geführt werden können. Sachfremde Beleidigungen sind dabei zu vermeiden, Verbote, solange es um Meinungen im Rahmen des Grundgesetzes geht und nicht um Verleumdungen, sind absolut tabu.

Demokratie lebt von Auseinandersetzungen, solange diese in bestimmten Regeln ablaufen. Die erste Demokratie in Deutschland scheiterte nicht nur an Hitler, sondern daran, dass es zu wenige Demokraten gab – ab 1930 hatten im Reichstag Parteien (NSDAP, DNVP, KPD), die ganz offen die Abschaffung der Demokratie forderten, eine absolute Mehrheit.

Auch die zweite deutsche Demokratie ist in Gefahr, aus einem ähnlichen Grund zu scheitern. Wenn weniger als 50 Prozent sich an Wahlen beteiligen, wenn immer weniger Menschen sich politisch engagieren und wenn maßgebliche politische Kräfte allen Ernstes die derzeitige staatliche Ordnung Deutschlands auf eine Stufe mit dem NS-Staat oder der DDR stellen, so sind das keine Kleinigkeiten mehr, über die man hinwegsehen könnte.

Es steht nirgends geschrieben, dass Deutschland immer demokratisch sein wird. Dafür zu sorgen, dass es dies möglichst lange ist, ist Aufgabe jedes politisch interessierten Menschen. Dazu gehört öffentliche (sachliche) Kritik an der Regierung, Akzeptanz unterschiedlicher Meinungen aber Einigkeit darüber, dass Demokratie und Rechtsstaat erhalten bleiben müssen – oder, wie wir in unserer Nationalhymne singen:

 

Einigkeit und Recht und Freiheit

für das deutsche Vaterland!

Danach lasst uns alle streben

brüderlich, mit Herz und Hand!

Einigkeit und Recht und Freiheit

sind des Glückes Unterpfand.

Blüh‘ im Glanze dieses Glückes,

blühe, deutsches Vaterland!

 

Zurück